Damals, als das Land ein Reich und der Wohlstand groß war, lebten die Menschen in Frieden zusammen, der Wolf lag bei den Schafen und die Lilien wuchsen auf dem Felde. Dann kam der Untergang, das Land verdarb und mit ihm die Menschen. Der große Held segelte fort und ward nie mehr gesehen. Der Kaiser, der die Ordnung in fester Hand gehalten hatte, starb und sein missratener Sohn bewies sich als unfähig, den Frieden aufrechtzuerhalten. Seitdem verfällt das Land. Doch hin und wieder erklingt von irgendwoher ein Lied, das von den alten Zeiten erzählt, und wer es hören will, kann Hoffnung schöpfen. Viele Völker erzählen sich Geschichten vom Großen Wiedererwachen. Es sind Geschichten von mystischen Königen und Feldherren, weisen Magiern und sagenhaften Helden. Der König irrt umher auf den Weltmeeren, doch wenn er zurückkehrt, wird wieder Frieden herrschen. Der Kaiser schläft im Untersberg, doch an dem Tag, an dem er erwacht, wird das Land zu alter Größe zurückfinden. Die Menschen werden ihre kleinlichen Streitigkeiten beilegen, Ungerechtigkeit, Missgunst und Hass werden für lange Zeit vergessen sein. Solange es noch nicht so weit ist, bleibt uns nichts anderes übrig als zu warten und uns mit einem Leben im ehernen Zeitalter abzufinden. Doch hin und wieder hören einige von uns das Lied, das da schläft in allen Dingen - das Lied, das Hoffnung verkündet, weil es von einer unvordenklichen Zeit erzählt, der guten und alten. Man braucht, um das Lied zu vernehmen, vor allem eins: Geduld. Mit der Zeit erwacht es. Es schläft in den Ringen der Bäume, es schläft im Rauschen der Felder, es schläft im Fallen der Blätter im Herbst. Es ist ein ewiges Lied, und es ist sich niemals gleich - kein Ring, kein Rauschen, kein Fallen gleicht dem anderen. Und doch ist es nur ein einziges, das da in den Dingen erklingt. Am tiefsten und verborgensten schläft das Lied in den Mauern, in den Denkmälern, in den Klippen und Felsen, in den Steinen. Um es zu hören, braucht es mehr als Geduld. Es braucht einen Willen. Bisweilen braucht es Gewalt. Denn das Lied, das im Stein schläft, ist das älteste. Die unvordenklichen Zeiten, die in ihm, in seinen Linien und Mustern, gespeichert sind, zeigen sich nur widerwillig. Die Vergangenheit will schlafen im Stein, sie will versteinert sein, sie will sich nicht preisgeben. Vielleicht muss man sie aufbrechen, die gute alte Zeit, wie eine Muschel, von deren Perle sich der Taucher Glück und Wohlstand verspricht. Das kann zu einer Sucht werden: Wie der Taucher immer wieder hinabtaucht, um die eine vollkommene Perle zu finden, sucht der Mensch, der die Steine aufbricht, um ihr Lied freizulegen, wie besessen nach dem nächsten Fels, nach einem weiteren Kiesel, nach Trümmern und Mauerresten. Er muss sie an das Tageslicht zerren, muss sie sich verwandeln lassen, und sind sie nicht willig, so braucht er Gewalt. Schneidet und spaltet, schabt und schuppt, zertrennt und zerteilt, gewaltig, gewalttätig und doch zugleich geduldig, zeigt sie stolz, staunend und still, und wir stehen davor und hören und sehen, zur gleichen Zeit bewundernd und verzaubert, beunruhigt und verwirrt.
(Gunnar Kaiser)
Fotos: Philipp Friedrich
"Petra"; Gallery unttld contemporary; October 25 - december 20, 2019; Vienna